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Editorial
von Perspektiven-Redaktion

1968 war ein gutes Jahr.

Wer hat sie nicht schon mal gesehen, die Geburtstagskarten, die zumeist vor Trafiken (für unsere deutschen LeserInnen: Tabakläden) ausgestellt sind und das immer gleiche von jeder möglichen Jahreszahl behaupten. Die Jubilarin oder der Jubilar darf sich dann freuen und im Inneren des Billets lesen, welche großen Ereignisse neben ihrem oder seinem Erscheinen in der Welt dieser noch ihren Stempel aufgedrückt haben. Das Jahr 1968 war da so gut wie jedes andere. Dass dem nicht so ist, zeigt die Tatsache, dass heuer das Jahr selbst Geburtstag feiern darf – welchem anderen ist das schon vergönnt – und die Glückwunschkarten liegen als Bild- und Sammelbände, Monografien und Memoiren in Buchläden auf, Nostalgierunden in Funk und Fernsehen begleiten die Feierlichkeiten. Doch auch abgerechnet wird mit 1968, alles Böse auf der Welt vom islamischen Terrorismus bis quengelnden Kleinkindern ist seine Schuld und die der Brut, die das Jahr hervorgebracht hat: die „68er“.

Die vorliegende Ausgabe von Perspektiven will mit all dem möglichst wenig zu tun haben. Nichts mit den nostalgischen Veteranentreffen (seltener kommen auch Veteraninnen zu Wort), in denen von 1968 gesprochen wird wie von aufregenden Jugendspäßen im Sommercamp. Und auch sicher nichts mit den wehleidigen Abrechnungen mit der eigenen Vergangenheit, derer man sich angesichts der konformistischen Gegenwartsexistenz glaubt schämen zu müssen. Stattdessen sollen Schlaglichter auf die Revolte geworfen werden, die ein Verständnis der vielfältigen Dimensionen der Rebellionen ermöglichen und die unter dem Berg von Erinnerungsmüll verschüttete Vielfalt des großen Aufbegehrens gegen den globalen Kapitalismus diskutierbar machen.

Dass es mehr als eine Studierendenrevolte war, betont das einleitende Interview mit Chris Harman; gestützt und ausgeführt wird diese These von Marcel van der Linden. Veronika Duma sprach mit dem Sozialhistoriker über das Rätsel der Gleichzeitigkeit, dem simultanen Aufbruch in so vielen unterschiedlichen Weltregionen, von Berkeley bis Berlin, von Prag bis Mexiko-Stadt. In Deutschland tobt derweil die Debatte um den angeblich undemokratischen Charakter der Studierendenbewegung von 1968 und ihrer zentralen Organisationsstruktur, dem SDS. Alex Demirovic hält dem entgegen, dass Selbstreflexivität und demokratisches Potential nicht im Gegensatz zur Wiederentdeckung sozialistischer Traditionen standen und stehen, sondern sich im Gegenteil wechselseitig beding(t)en. Aus dem Berg von Neuerscheinungen zum Thema hat Felix Wiegand sich zwei der interessantesten Sammelbände herausgegriffen und diskutiert „Weltwende 1968?“ und „1968 und die Arbeiter“, die das Scheinwerferlicht auf den weltumspannenden Zusammenhang sowie die proletarischen, klassenkämpferischen Aspekte der Revolten richten. Philipp Probst schließlich erzählt die Geschichte von MC5, der vielleicht aufregendsten Band der US-amerikanischen counter culture der 1960er Jahre, im Spannungsfeld von LSD, black power und Kulturrevolution.

Außerhalb des Schwerpunkts gibt es Teil zwei der Serie zum politischen Erbe der russischen Revolution: Benjamin Opratko nimmt sich „Zeit für Lenin“ und fragt, was eine undogmatische Linke heute noch von diesem toten Hund der marxistischen Theorie lernen kann. Die globale Finanzkrise, ausgelöst vom Platzen der Spekulationsblase
rund um Immobilienhypotheken in den USA, wird vom US-amerikanischen Wirtschaftshistoriker Robert Brenner analysiert.

Zu guter Letzt gibt es Rezensionen zur feministischen Intersektionalitätsforschung, transnationalen Arbeitskonflikten und David Harveys „kleiner Geschichte des Neoliberalismus“.

Viel Freude bei der Lektüre, und schafft zwei, drei viele 1968!





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