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Islamophobie und die Kulturen des Rassismus
von Maria Asenbaum, Felix Wiegand

Islamophobe Argumente ziehen sich seit einigen Jahren durch das gesamte politische Spektrum. Wiewohl sich die unterschiedlichen ProtagonistInnen der Debatte aus unterschiedlichsten Positionen zu Wort melden, scheinen sie doch in dieselbe Kerbe zu schlagen. Maria Asenbaum und Felix Wiegand über die Zusammenhänge von Neorassismus, „Kampf der Kulturen“ und „Islamkritik“.

Mit den jüngsten Verbalattacken der Grazer FPÖ-Kandidatin Susanne Winter hat die islamfeindliche Hetze in Österreich einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Reaktionen waren zwar großteils ablehnend bis empört, doch stets mit einen „aber“ verbunden. Zusammengefasst: „Empörend, aber der islamistische Terrorismus ist schon eine echte Bedrohung“, „Empörend, aber die Integration von MuslimInnen ist tatsächlich ein Problem“, „Empörend, aber der Islam ist eben eine rückschrittliche, gewaltverherrlichende Religion“. So „empört“ sich auch Standard-Gastkommentator Christian Zeitz – über die Empörung: „Es ist ein Akt intellektueller Redlichkeit, die Quellen, auf die sich die Muslime selbst berufen, zitieren und die Ausbreitungsgeschichte des Islam referieren zu dürfen. Und es ist ein Akt der Selbstbehauptung des mitteleuropäischen Erfolgsmodells, von den Vertretern der Muslime den Nachweis der Anpassung ihrer Lehre an die Wertebasis unserer Gemeinschaft einzufordern. Dies als ‚Ausgrenzung’ und ‚menschenverachtenden Rassismus’ zu definieren ist ein inakzeptables Totschlagsargument. Denn ‚die Wahrheit ist den Menschen zumutbar’ (Karl Popper).“1

Rassismus ohne Rassen

Wenn wir hier demgegenüber auf der Notwendigkeit beharren, von „Ausgrenzung“ und „menschenverachtendem Rassimus“ zu sprechen, sollte zunächst klar sein, worüber wir nicht sprechen: über die Vorstellung, die menschliche Gattung bestünde aus unterschiedlichen biologischen „Rassen“, denen von Natur aus ein unterschiedliches Maß an Zivilisiertheit, Intelligenz, Arbeitseifer usw. zukäme und die sich anhand äußerer Merkmale wie Hautfarbe oder Schädelform erkennen ließen. Die Argumente eines solchen – wissenschaftlich unhaltbaren – biologischen Rassismus sind nach 1945, aber auch aufgrund der Dekolonialisierung sowie der Abschaffung der „Rassen“-Segregation in den USA und in Südafrika im öffentlichen Mainstream moralisch derart diskreditiert, dass insbesondere im deutschsprachigen Raum die Verwendung des Wortes „Rasse“ weitgehend tabu ist. Nicht umsonst wird zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen gegenwärtig – zumindest im offiziellen Sprachgebrauch – anhand ethnischer, kultureller oder religiöser Differenzen, nicht anhand von Hautfarbe oder Schädelform unterschieden. Doch ist Rassismus deshalb verschwunden? Nein, er hat lediglich seine Form verändert und funktioniert als „Rassismus ohne Rassen“, meinten in den 1980er Jahre vor allem französische und britische (Sozial-)WissenschafterInnen und PhilosophInnen und eröffneten damit einen neuartigen Blick auf einige der wirkungsmächtigsten ideologischen Prozesse gegenwärtiger Gesellschaften. Die zentrale Einsicht von TheoretikerInnen wie Pierre-André Taguieff, Ettiene Balibar, Robert Miles oder Stuart Hall besteht dabei – über alle Unterschiede in einzelnen Positionen hinweg – in der Erkenntnis, dass eine bestimmte Form der Unterteilung der Menschheit in verschiedene Gruppen und der Identifikation dieser Gruppen mit bestimmten Charakteristika nicht notwendigerweise an die Idee einer Existenz biologischer „Rassen“ gebunden sein muss, um rassistisch zu sein. Stattdessen kann, so die These, rassistische Klassifikation auch auf der Annahme unveränderlicher kultureller Differenz beruhen.

Diskurs der Differenz

Doch was genau kennzeichnet ein solches kulturalistisches, d. h. das Kulturelle betonende Denken als „neorassistisch“, ab wann ist es also gerechtfertigt, von „kulturellem“ oder „differenzialistischem“ Rassismus zu sprechen? Einen ersten Anhaltspunkt bietet zunächst eine allgemeine Bestimmung von Rassismus: dieser beruht nach Robert Miles2 auf einem ideologischen Prozess der Grenzziehung zwischen verschiedenen, als miteinander unvereinbar gedachten Gruppen, sowie auf der Vorstellung, die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer dieser Gruppen ließe sich anhand (zumeist) äußerlicher und (vermeintlich) angeborener Merkmale erkennen und wäre zwingend mit bestimmten (kulturellen und/oder biologischen) Eigenschaften verbunden. Die Zuordnung dieser Eigenschaften erfolgt im rassistischen „Diskurs der Differenz“3 in Form von einander entgegengesetzten Stereotypen und dient der Konstruktion von Identität: so wie die der anderen Gruppe zugesprochenen (negativen) Eigenschaften ihr Spiegelbild in jenen (positiven) der eigenen Gruppe haben (irrational vs. rational, naturverhaftet vs. aufgeklärt, primitiv vs. kultiviert usw.), findet das „Andere“ als Objekt des Rassismus seinen Gegensatz im eigenen „Wir“. Für Stuart Hall ist „[d]ieses System der Spaltung der Welt in ihre binären Gegensätze (…) das fundamentale Charakteristikum des Rassismus, wo immer man ihn findet“.4 Im Zuge dieses „Diskurses der Differenz“ werden demnach sowohl das „Wir“ (die Weißen, die Österreicher, der Okzident) als auch das „Andere“ (die Schwarzen, die Ausländer, der Orient) als geschlossen und völlig homogen – gleichsam als monolithischer Block – konstruiert. Die unzähligen Differenzen, die sich innerhalb dieser Gruppen und der einzelnen Individuen entlang von Kategorien wie Geschlecht, Klasse, sexuelle Orientierung, Alter usw. usf. auftun, müssen daher notwendigerweise zugunsten einer vermeintlich allumfassenden gemeinsamen Identität unter den Tisch fallen. Da diese Identität wie auch die mit ihr verknüpften Eigenschaften dabei als unveränderlich und quasi-angeboren und nicht als Ergebnis eines historisch-sozialen Prozesses dargestellt werden, erscheinen beide letztlich auch dort als natürliche Tatsache, wo grade nicht biologistisch, sondern kulturell argumentiert wird: „Kultur [kann] durchaus als eine solche Natur fungieren, insbesondere als eine Art, Individuen und Gruppen a priori in eine Ursprungsgeschichte, eine Genealogie einzuschließen, in ein unveränderliches und unverrückbares Bestimmt-Sein durch den Ursprung“.5 Dass der neorassistische Diskurs in seinem Effekt – der Festschreibung von Kultur als angeborener Tatsache – dem biologischen Rassismus hier sehr stark ähnelt, ist ein Indiz dafür, dass beide Phänomene realiter nicht unbedingt einen Gegensatz, sondern lediglich die „,zwei Logiken‘ des Rassismus“6 bilden: so wie in der Vergangenheit der vermeintliche Unterschied zwischen verschiedenen biologischen „Rassen“ seine Begründung zugleich immer auch in sozialen und kulturellen Differenzen fand, werden heute umgekehrt kulturell bestimmten Gruppen spezifische physische Merkmale und sexuelle Eigenheiten zugeschrieben oder es wird unterstellt, enge familiäre Bindungen und Heiratsregeln dienten der biologischen und zugleich kulturellen Reproduktion solcher Gruppen.7 Die Analyse derartiger Verbindungen von Essentialismus, Naturalisierung und biologistischer Zuschreibung – d. h. die Frage, wie Rassismus ideologisch funktioniert – wäre indes weniger drängend, ginge dieser bekanntermaßen nicht über eine bloße Identitätskonstruktion weit hinaus. Insofern der rassistische Diskurs immer auf eine Form der (praktischen) Marginalisierung abzielt, erhalten die vermeintlich natürlichen und daher unveränderlichen Unterschiede nämlich eine besondere Bedeutung: sie werden als Rechtfertigung dafür benutzt, der als „anders“ definierten Gruppe (und nur ihr) auch tatsächlich gewisse Rechte (bis hin zum Recht auf Leben) oder den Zugang zu bestimmten Ressourcen zu verweigern.8 Da Rassismus derartige „Ausschließungspraxen“9 begründet, ist er demnach zwingend immer auch ein Herrschaftsprozess und als solcher an gesellschaftliche Macht- und Dominanzverhältnisse gebunden. Offenkundig wird dies besonders dort, wo rassistisches Denken sich aus der Machtposition der Mehrheit heraus gegen Minderheiten richtet bzw. in Form von institutionellem Rassismus oder gar einer zur Staatsdoktrin erhobenen Ideologie wirkungsmächtig wird.

Rassismus und bürgerliche Herrschaft

Zusätzlich zu diesem unmittelbar auf die Opfer gerichteten Effekt steht Rassismus jedoch auch noch anderweitig in engem Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Denn in dem Maße, in dem er dazu beiträgt, untergeordnete Gruppen und Klassen zu spalten – z.B. in „weiße“ und „schwarze“ ArbeiterInnen oder „westliche“ und „islamische“ Frauen – und eine Solidarisierung oder angemessene Repräsentation gemeinsamer Interessen so zu verhindern10, wirkt das durch den rassistischen Diskurs erzeugt Konstrukt einer einheitlichen und gemeinsamen Identität (s.o.) umgekehrt als ideologischer Kitt im Inneren einer Gesellschaft: insofern es Identifikation ermöglicht und auch gesamtgesellschaftlich nicht privilegierten Gruppen und Schichten Zugehörigkeit und (materielle) Vorteile verspricht, ist es nämlich zugleich „Bestandteil der Gewinnung von Konsensus und der Konsolidierung einer sozialen Gruppe in Entgegensetzung zu einer anderen, ihr untergeordneten Gruppe“.11 Falsch wäre es freilich, Rassismus auf diese Funktion der Erhaltung bürgerlicher Herrschaft zu reduzieren und seine Wirkungsmächtigkeit – gerade in der ArbeiterInnenklasse – in weiterer Folge mit einer gezielten Vermittlung „falschen Bewusstseins“ durch die Herrschenden erklären zu wollen. Vielmehr gilt es zu verstehen, dass rassistische Ideologien in „praktisch adäquater“ Art und Weise an Elemente des Alltagsverstands anknüpfen und eine Möglichkeit darstellen, wie Menschen ausgehend von ihren Erfahrungen die (kapitalistisch verfasste) Welt und ihr Verhältnis zu dieser beobachten und verstehen können.12 Um in dieser Form als „Sinngebungsinstanz“ zu fungieren und den Menschen ein vermeintliches Wissen über gesellschaftliche Zusammenhänge zu vermitteln, bedürfen rassistische Ideologeme jedoch zuvor einer Art Rationalisierung, d. h. einer theoretischen Ausarbeitung auch und gerade durch Intellektuelle und den akademisch-wissenschaftlichen Betrieb.13

Intellektualisierte Rechte

Angesichts der Notwendigkeit einer solchen theoretischen Ausarbeitung scheint im Bezug auf das Aufkommen und die Verbreitung kulturrassistischer Argumente zunächst ein Blick auf die Diskursmanöver der so genannten „Neuen Rechten“ angebracht. Diese „intellektualisierte Rechte“, wie sie sich selbst bezeichnet, die sich besonders seit den 1980er Jahre in Frankreich und Deutschland ausbreitet14, grenzt sich bewusst von rückwärtsgewandten Ideen ab, verzichtet auf plumpe Rassismen und benutzt eine konsensfähige Diktion um rassistische Ideen zu transportieren. Chefideologe Alain De Benoist bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den gramscianischen (aus der marxistischen Tradition stammenden) Begriff der kulturellen Hegemonie und Pierre Krebs macht es zum erklärten Ziel, „den Kampf um Europa theoretisch vorzubereiten“.15 Dementsprechend wird auf den Begriff der „Rasse“ verzichtet und der Begriff der „Kultur“ ins Zentrum gestellt. Die Mehrdeutigkeit dieses Begriffs ist dabei besonders vorteilhaft, Konnotationen bleiben unausgesprochen, für Insider sei die Bedeutung ohnehin klar.16 So analysieren Fischer und Gestettner: „Sie sagen Kultur und meinen Rasse … Sie verwenden zur Bezeichnung von Althergebrachten und Ewiggestrigen eine neutralisierte Sprache …“.17 Vor allem in ihrer Kritik am Multikulturalismus und in dem von ihnen propagierten Gegenmodell des Ethnopluralismus wird die synonyme Verwendung des Kulturbegriffs mit dem der „Rasse“ deutlich. Aufgegriffen werden dabei vor allem jene Argumente aus der Multikulturalismusdebatte, die das Recht auf kulturelle Differenz18 betonen. Hier ergeben sich scheinbare Kontinuitäten aus der Aufwertung des Kulturbegriffs auf Seiten linker Intellektueller der 70er und 80er Jahre. Dieser Retrosionseffekt19 nimmt nicht nur der anti-rassistischen Kritik den Wind aus den Segeln, er hilft auch, „ethnische Konflikte“ in „natürliche Abwehrreaktionen“ auf unnatürlich gesellschaftliche Experimente umzudeuten. Vorangestellt wird hier das „humanistische“ Argument, dass jede/m seine/ihre Kultur zugestanden werden müsse, eine multikulturelle Vermischung aber eine Gefährdung der Kultur jedes/er Einzelnen darstelle. Angestrebt wird eine „heterogene Welt homogener Völker“20

Rechtspopulismus

Wie das praktisch umgesetzt werden soll, bleibt zwar unausgesprochen, doch kann auf diesem Weg das alte Feindbild „Ausländer“ nicht mehr nur für Arbeitslosigkeit und soziale Verschlechterung, sondern auch für die Bedrohung der kulturellen Identität verantwortlich gemacht werden.
So beschrieben z. B. im Parteiprogramm der NPD:„Die Völker sind die Träger der Kulturen. Völker unterscheiden sich durch Sprache, Herkunft, geschichtliche Erfahrung, Religion, Wertvorstellungen und ihr Bewusstsein. Ihrer kulturellen Eigenart werden sich die Völker besonders dann und dort bewusst, wenn diese gefährdet ist. Die Erhaltung der Völker dient der Erhaltung der Kultur. Bloße Gesellschaften bilden keine Kultur, sondern höchstens eine Zivilisation, deren höchster Wert materiell ist. „Multikulturelle“ Gesellschaften sind in Wirklichkeit kulturlose Gesellschaften. Die Vielfalt der Völker muss erhalten bleiben.“21 Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, kulturhomogene Räume zu schaffen (ergo Deutschland den Deutschen). Außerdem wird Kultur als etwas natürlich Gewachsenes dargestellt. Die Überschneidung von kultureller und genetischer Kategorisierung zeigt sich beispielsweise in den familienpolitischen Konzepten rechter Parteien. Um die kulturelle Identität zu wahren, soll das „Kindergeld als volkspolitische Maßnahme“ nur an deutsche Mütter ausbezahlt werden.
In Verbindung mit einer „das Boot ist voll“-Angstmache war die populistische Umsetzung der strategischen Überlegungen der Neuen Rechten vor allem in den 1990er Jahren in Europa überaus erfolgreich. Zum einen konnte der äußere Anschein der Unbedenklichkeit und Seriosität rechter, kulturrassistischer Theoriebildung die Diskursfiguren von rechts außen weit in die Mitte der Gesellschaft rücken lassen. Zugleich schufen wirtschaftliche Umstrukturierung (Neoliberalismus, Prekarisierung) und der damit verbundene Vertrauensverlust in die Sozialdemokratische Parteien den Raum für den Aufschwung rechtspopulistischer Parteien. Der Siegeszug von Parteien wie der FPÖ, Front National, Lega Nord, Forza Italia usw. ging mit einen Rechtruck im gesamten politischen Spektrum einher, in dessen Folge sich auch die konservativen Parteien, die teilweise ihre Zusammenarbeit mit den RassistInnen zu rechtfertigen hatten, genötigt fühlten, die „Ausländerproblematik“ aufzugreifen und den Tonfall ihrer „Partner“ vom rechten Rand nachzuahmen.22

Zivilisationsparadigma

Wie sehr diese Verschiebung des politischen Klimas nach rechts kulturrassistische Stereotype auch im politischen Mainstream und im bürgerlich-liberalen Lager salonfähig werden ließ, zeigt nicht zuletzt der bis heute anhaltende Erfolg jener publizistischen Zeitdiagnosen und Zukunftsszenarien, die in verschiedenen Zusammenhängen eine Bedrohung „des Westens“ bzw. der westlichen „Wertegemeinschaft“ postulieren. Interessanterweise beruhen die meisten dieser Bedrohungsszenarien und Kriegsprognosen seit den 1990er Jahren trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen doch auf einer Reihe gemeinsamer Annahmen, deren theoretisch-akademische Ausarbeitung als „Zivilisationsparadigma“23 sich zum großen Teil im Werk Samuel Huntingtons findet24. Dieser US-amerikanische Politikwissenschaftler und Präsidentenberater entwarf in seinem 1993 in Foreign Affairs erschienen Aufsatz „The Clash of Civilizations?“25 – entgegen dem Fragezeichen im Titel – das in den letzten 15 Jahren überaus einflussreiche Szenario eines „Kampfes der Kulturen“ (so auch der deutsche Titel des gleichnamigen Buches).
Huntingtons Theorie nach würden Konflikte im 21. Jahrhundert nicht mehr in erster Linie auf ökonomischen oder ideologischen Ursachen beruhen, sondern entstünden aufgrund des kulturell bedingten Aufeinanderprallens sozialer Großräume, so genannter Zivilisationen. Letztere ließen sich durch „objektive Eigenschaften“ wie Sprache, Geschichte, Bräuche, Institutionen, Familienstrukturen, Bewusstsein oder auch Blutsbande als einander fremd gegenüberstehende, im Inneren homogene und weitgehend unveränderliche „kulturelle Entitäten“ bestimmen und verfügten als „eine Art Mega-Lebewesen“26 über eine je spezifische langfristige Entwicklungsdynamik von Aufstieg und Fall, von Entstehung, Wachstum und Untergang27. Wenn bereits diese allgemeinen, zugleich kulturalistischen und biologistischen Annahmen „… auf die Aufhebung menschlicher Geschichte, auf ihren Ersatz durch Natur, und damit auf den Kulturrassismus als Basis der Argumentation [verweisen]“28, so trägt Huntingtons Beschreibung der einzelnen Zivilisationen und ihres Verhältnisses zueinander erst recht offen rassistische Züge.
Denn während er die „westliche“ Zivilisation in erster Linie durch angeblich gemeinsame „Werte und Ideen“ wie “individualism, liberalism, constitutionalism, human rights, equality, liberty, the rule of law, democracy, free markets (sic!), the seperation of church and state” definiert29, spricht er diese den restlichen sechs bis sieben Zivilisationen, d. h. namentlich der Konfuzianischen, Japanischen, Islamischen, Hinduistischen, Slawisch-Orthodoxen, Lateinamerikanischen sowie, möglicherweise, der Afrikanischen (Huntington ist sich der Existenz einer solchen nicht sicher) ab. Stattdessen sieht er sie vor allem religiös bestimmt.30 Aufgrund derartig großer kulturell-religiöser Unterschiede müsse es, so Huntington weiter, notwendigerweise zu einem Konflikt “The West versus the Rest”31 kommen, in dem sich als Bedrohung für die westliche Vormachtstellung insbesondere die “Confucian-Islamic Connection” herausstellen würde32. Dieses (anhand gegenseitiger Waffenlieferungen vermeintlich nachgewiesene) Fantasiekonstrukt scheint bei genauerer Betrachtung indes lediglich aus der „Islamischen Zivilisation“ zu bestehen, unterstellt Huntington dieser doch, wie keine zweite zu Krieg und Gewalt zu neigen: “Islam has bloody borders”33. Dass hier und bei der Mehrheit der EpigonInnen Huntingtons gerade „der Islam“ – der infolge der Identifizierung von Kultur und Religion die ganze „Zivilisation“ repräsentiert – als Feindbild herhalten muss, ist aus zweierlei Gründen wenig überraschend.

Feindbild Islam

Zum einen greift Huntington mit seinen rassistischen Stereotypen auf eine Vielzahl jener Inhalte, Symbole und Bedeutungen zurück, die nach Edward Said als Elemente des „Orientalismus-Diskurses“, d. h. eines Diskurses „des Westens“ über „den Orient“, eine jahrhundertealte Geschichte haben34. Den im Zusammenhang mit Huntington wichtigste Bestandteil bildet jene zumindest implizit rassistische Konstruktion und (Re-)Produktion des „Orients“, in der dieser essentialistisch als homogene und unveränderliche Einheit aufgefasst und mit bestimmten negativen Eigenschaften (irrational, rückständig, unterentwickelt etc.) belegt wird. Diese Eigenschaften unterscheiden sich dabei negativ-spiegelbildlich von jenen des „Westens“ und lassen diesen daher als positives Gegenstück oder Norm erscheinen35. Angesichts der Argumentation Huntingtons liegt es auf der Hand, in seinen Thesen eine pseudo-wissenschaftliche Form dieses Diskurses zu sehen und seine publizistischen Erfolge in den 1990er Jahren demnach zumindest teilweise auf die großen Verbreitung derartiger Ideologeme über „den Orient“ respektive „den Islam“ zurückzuführen.
Zum zweiten kommt dem „Feindbild Islam“ bei Huntington und anderen die spezifische Funktion zu, anstelle der UdSSR oder des Kommunismus im Inneren der „westlichen“ Gesellschaften als ideologischer Kitt zu wirken und „Legitimationsreserven“36 für eine aggressiv-imperialistische Außenpolitik bereitzustellen. Dies wird dort überdeutlich, wo Huntington – ganz Präsidentenberater – vorschlägt, die angebliche Gefahr eines “decline of Western power” und, damit einhergehend, eines “retreat“ bzw. einer “erosion of Western culture”37 durch die Rückbesinnung auf die eigene zivilisatorisch-kulturelle Einheit sowie durch konkrete politische, strategische und militärische Maßnahmen zu bekämpfen.38 Auch wenn derartige Lösungsvorschläge Huntingtons sicherlich nicht eins-zu-eins Eingang in konkrete europäische oder US-amerikanische Politiken finden39, so bilden seine Thesen doch „einen Vorrat von Erklärungen legitimen staatlichen Handelns, die hervorgeholt werden können – und dann, da bekannt, einleuchten –, wenn spezifische Konflikte erklärt, gegebenenfalls ,friedensschaffende und friedenssichernde‘ Einsätze des Militärs begründet werden sollen“40. Gerade in seiner Fokussierung auf die “Confucian-Islamic Connection” stellt Huntington demnach das ideologische Repertoire zur Verfügung, das die seit Anfang der 1990er Jahre bestehende militärstrategische Orientierung der US-Regierung und ihrer Verbündeten auf den arabischen und zentral-asiatischen Raum als notwendig und gerechtfertigt erscheinen lässt.
Der Wandel rassistischer Rhetorik und die Denkmuster zur Erklärung der neuen Weltordnung ermöglichten es, dass die Anschläge vom 11. September 2001 die Welt keineswegs ins Chaos stürzten. Ganz im Gegenteil, alles schien plötzlich klar. George W. Bush erklärt den „Feinden der freien Welt“ den Krieg (womit zwischen den Zeilen immer der Islam gemeint ist) und fordert jede einzelne Nation auf sich zu entscheiden: „Either you are with us, or you are with the terrorists”. Mit dem Angriff auf Afghanistan stiegen die USA und ihre Koalition der Willigen militärisch in den Kampf der Kulturen ein, den es scheinbar schon immer gegeben hatte. Bürgerliche Medien und konservative Politiker halten plötzlich Bürger- und Frauenrechte hoch und erklären die Notwendigkeit, diese mit Gewalt in den Nahen und Mittleren Osten zu bringen. Beim Angriff auf Afghanistan geht es um mehr als Rache: „Dieser Krieg ist Teil eines viel größeren Spektrums eines viel weiteren Konflikts zwischen einem gesetzten, kreativen, produktiven Westen und einem räuberischen, zerstörerischen Orient“.41
In der europäischen Debatte werden diese Argumente natürlich nicht eins zu eins übernommen. Zum Verständnis islamophober Hetze im europäischen Raum gilt es hier eher an die oben beschriebenen Entwicklungen (Aufschwung der Rechten, Verschiebung auf kulturelle Stereotype) anzuknüpfen und genauer zu untersuchen, mit welchen Motiven das politische Klima angereichert und verschärft wurde.

Europäischer Sicherheitsdiskurs

Zunächst muss festgehalten werden, dass der „Krieg gegen den Terror“ in Europa andere Prioritäten hat. Die Achse des Bösen, der West-against-the-rest-Konflikt bestimmen zwar das globale Setting, doch das Hauptproblem sind die hier lebenden Muslime, die „Schläfer“, die „Feinde in unserer Mitte“. Dieses Feindbild wird dabei nicht nur rhetorisch bedient, die rassistische Implikation neuer Anti-Terror und „Fremden“-Gesetzte – häufig in einem Atemzug genannt – ist dabei unschwer zu erkennen. Unmittelbar nach dem 11. September 2001 setzte die EU neue Rahmenbedingungen für die Terrorismusbekämpfung. Terroristische Taten werden hier als Vergehen definiert, die „mit der Absicht begangen werden, Personen einzuschüchtern und die politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Strukturen eines Landes in bedeutendem Maße zu ändern oder zu zerstören“, dabei wird deren „aktive und passive Unterstützung“ geahndet.42 Diese Vorgabe der Europäischen Kommission wurde von vielen Mitgliedsstaaten für Asylrechtsverschärfungen und überwachungsstaatliche Maßnahmen von unglaublicher Tragweite genutzt. Auf die Maßnahmen kann hier nicht einzeln eingegangen werden, entscheidend ist der Effekt der produziert wird. So vergleicht die Kriminologin Janne Flyghed die öffentliche Meinung zum Terror der IRA oder der ETA, der eher als ein peripheres Phänomen gedeutet wurde, mit der Allgegenwart, der unmittelbaren Bedrohung, die vom Terror durch den Islamismus ausgeht: „Wiederholte Bezugnahme auf gewisse spektakuläre Ereignisse produzieren ein falsches Bewusstsein der bevorstehenden Gefahr“, damit verbunden ist „die Wahrnehmung einer unspezifischen, diffusen aber dennoch sehr ernsten Bedrohung. Was genau bedroht ist, ist auch schwer zu definieren, es umfasst Konzepte wie das der ‚nationalen Sicherheit’, der ‚Sicherheit des Landes’ oder der ‚öffentlichen Ordnung und Sicherheit’, Konzepte deren Inhalt und Anwendung je nach politischer Situation variieren.“43 Zu dem Klima von Angst, Misstrauen und Vorurteilen trägt auch die Erweiterung des Kompetenzbereichs von Polizei und Geheimdiensten bei. So wurden in Dänemark und Norwegen ausländische Studierende als Risikogruppe definiert und ein Prozess des „religious profiling“ eingeleitet. Dabei sind Universitäten verpflichtet, mit den Geheimdiensten zu kooperieren44. Regelmäßige Razzien in Moscheen in Deutschland45 oder die „Stop-and-Search“-Praxis in Großbritannien sind in diesem Kontext als Disziplinarmaßnahmen bzw. strukturell rassistische Praxen zu verstehen, da es so gut wie nie zum Nachweis terroristischer Aktivitäten kommt. So wurden in Großbritannien von den 71.000 durchsuchten Personen im Zeitraum von 2002-2003 nur 1,8% verhaftet und der Großteil davon nicht im Zusammenhang mit Terrorverdacht.46 Spätestens seit den Anschlägen in London und den Aufständen in den französischen Banlieus gelten vor allem muslimische MigrantInnen der zweiten-, dritten Generation als tickende Zeitbomben. Die größte Gefahr gehe demnach von der islamischen Subkultur, wie sie in unseren „Kellern und Garagen“ (Nicolas Sarkozy)47 praktiziert wird, aus. Dabei werde nicht nur unser Leib und Leben bedroht, es geht um unsere Wertegemeinschaft, den europäischen Lebensstil und die jeweils nationale Identität.

Wertedebatte und Leitkultur

Nicht ganz umsonst verhallte unlängst Michael Köhlmeiers Appell im Club 248, doch einen „europäische Traum“ als Gegenstück zum amerikanischen zu formulieren, fast ungehört in seiner „Intellektuellenrunde“. Zu unterschiedlich sei die Geschichte der einzelnen Staaten und ihre jeweiligen Kulturen. Wenn überhaupt, seien es noch am ehesten die Ideale der Aufklärung, die Europa zusammenhielten49. Die Anstrengungen, eine gemeinsame Identität zu schaffen, scheinen immer wieder zu scheitern – so beispielsweise in den Debatten um Hymne und Fahne im EU-Reformvertrag. Aber so schwierig es zu sein scheint, zu definieren was Europa ist, so klar liegt auf der Hand, was es nicht ist und wogegen es sich schützen muss: Rückständigkeit, Irrationalität und all jene Dunkelheit, die aus dem Orient kommt. In Bezug auf die jeweiligen nationalen Identitäten scheint der Fall weniger kompliziert. Hier sind es eher gewisse Altlasten, die wenn schon nicht abgeworfen, dann wenigstens umgedeutet werden müssen. Dies kann anhand der deutschen Leitkulturdebatte gezeigt werden werden. Der Autor Hartwig Pautz sieht die Wurzeln der Leitkulturdebatte in neo-rassistischen Argumenten sowohl formuliert durch die Neue Rechte als auch durch Samuel Huntington und seine AnhängerInnen.50 Der Leitkulturbegriff als Maßstab für die Integration von MigrantInnen an die deutsche Kultur wurde 1998 von Bassam Tibi geprägt.51 Friedrich Merz (CDU) brachte den Begriff dann auf die politische Agenda und verknüpft ihn mit dem Ideal der europäischen Integration. Nachdem die CDU die Debatte vor allem im Feld der Einwanderungspolitik ansiedelte und nicht mit „Law and Order“ Assoziationen sparte, wurde der Begriff von linker Seite teilweise kritisiert. Allerdings sahen sich alle KritikerInnen genötigt, trotzdem ihre Liebe zu Deutschland zu betonen (Gabi Zimmer, PDS) oder sich zumindest positiv auf den „Verfassungspatriotismus“ zu beziehen (Renate Künast, Die Grünen). Der Begriff der Leitkultur verschwand zeitweise wieder aus den offiziellen CDU-Papieren. Was er impliziert, und zwar genau in dem Feld, in dem er ursprünglich angesiedelt war, ist aber nachhaltig gelungen: eine Umdeutung des Integrations- in einen Assimilationsbegriff, ohne dass dies ausgesprochen werden muss. Die praktischen Konsequenzen dieser Leitkultur-Metapher sind in erster Linie die in vielen Ländern eingeführten Integrationsverträge, in Deutschland Einbürgerungstests. Von den ImmigrantInnen wird gefordert, nicht nur Sprache und Gesetzte zu beherrschen, sondern die Werte und Normen der Nation aktiv zu befürworten und zu leben. Oder, wie es der CDU-Politiker Jörg Schönbohm etwas weniger politisch korrekt ausdrückt: „Immigranten müssen die Kultur anstreben, die sich seit Otto dem Großen entwickelt hat, mit ganzem Herzen und nicht nur wegen der persönlichen Vorteile der Immigration.“52 Auch in diesem Zusammenhang gab es in den letzten Jahren eine Verschiebung der Problemstellung vom allgemeinen „Ausländerproblem“ zum Problem „der Muslime“. So veröffentlichte das baden-würtenbergische Innenministerium die Einschätzung, man müsse „Zweifeln, ob bei Muslimen generell davon auszugehen sei, dass ihr Bekenntnis bei der Einbürgerung auch ihrer tatsächlichen inneren Einstellung entspreche“.53 Damit werden Menschen muslimischer Religion pauschal als potentielle LügnerInnen abstraft.54

Abrechnung mit Multi-Kulti

Mit Blick auf die mediale Resonanz dieser Werte- und Leitkultur-Debatte sowie auf das weitgehende Fehlen linker Interventionen lässt sich ein weiterer Faktor für den Erfolg islamophober Diskursmuster im deutschsprachigen Raum ausmachen: die Verschiebung des politischen Kräfteverhältnisses zugunsten einer neuen Form des Konservativismus. So gelang es VertreterInnen religiöser, neo- oder rechtskonservativer und rechtsfeministischer Positionen in den letzten Jahren, eine gewisse ideologische Deutungshoheit zu erlangen und sich auch in jenen bürgerlichen Medien Gehör zu verschaffen, in denen noch in den 1990er Jahren vorwiegend linksliberale Positionen vertreten wurden. Der Wunsch, mit solchen Positionen und ihren ProtagonistInnen, d. h. vor allem „den 1968ern“ abzurechnen, ist neben einer christlich-religiös geprägten Abwehrhaltung sicherlich einer der Hauptgründe dafür, dass neokonservative Strömungen das Thema „Islam“ derart stark besetzen. Denn wenngleich diese Abrechnung – die im Kern auf eine grundsätzliche Delegitimierung emanzipatorischen Denkens und Handelns zielt – bereits seit Jahren im vollen Gange ist, so erhält sie seit den Anschlägen von 9/11, dem Mord an dem Regisseur Theo van Gogh oder den „Gewaltexzessen ausländischer Gewalttäter“ eine neue Stoßrichtung; sie wird zur Suche nach den gesellschaftlich Schuldigen für die vermeintliche Misere: wer sonst als „die Linken“ und ihre „Multikulti-Lüge“ (Focus-Cover) kommen da in Frage, hätte deren „verhuschte Fremdenfreundlichkeit“ und „falsche Toleranz“56 doch zu einer Gesellschaft geführt, die, wie Spiegel-Autor Henryk M. Broder mit seinem Bestseller „Hurra, wir kapitulieren“ warnt, einer angeblichen Unterwanderung durch islamistischen Strömungen völlig wehrlos gegenüberstünde.
Die strategische Ausrichtung einer solchen Argumentation, die zunächst Multikulturalismus vereinfachend mit Kulturrelativismus57 gleichsetzt, um diesen dann für eine „falsche Toleranz“ gegenüber der „Tsunami-Welle des islamischen Fundamentalismus“58 verantwortlich zu machen, liegt auf der Hand: durch die gezielte Diskeditierung von AntirassistInnen als naive, weltfremde und letztlich gefährliche „Gutmenschen“ wird versucht, Widerstand gegen rassistische (Einwanderungs- und Sicherheits-)Politik zu delegitimieren und so das Entstehen breiter (zivil-)gesellschaftlicher Allianzen zu verhindern (Lichterketten, Bewegung gegen Schwarz-Blau usw.). Gleichzeitig soll der Eindruck entstehen, dass umgekehrt für eine „wirkliche Integration“59 der MuslimInnen deren Assimilation an eine „deutsche“, „österreichische“ oder „europäisch-westliche“ „Leitkultur“ der einzig gangbare Weg wäre. Dass im Zuge einer derartigen, auf vermeintliche Gefahrenabwehr fokussierten Argumentation die positive Bezugnahme auf Volk und Nation rund um den Begriff „Leitkultur“ wieder salonfähig wird, passt insofern ins Bild, als insbesondere in Deutschland zuletzt Geschichtsrevisionismus und die Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen auch fernab des rechten Randes fröhliche Urständ’ feierten60. Dass auch die Debatte um Islamismus davon nicht verschont bleibt, zeigen etwa Henryk Broder, der das gegenwärtige Verhalten Europas mit der Appeasement-Politik gegenüber Hitler vergleicht oder Alice Schwarzer, die islamistische „Mordbrigarden“ für „gefährlicher als die Nazis“61 hält.

Das zentrale Ziel einer solchen Argumentation liegt indes wohl weniger in der Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen als vielmehr im Versuch, durch die Konstruktion eines möglichst bedrohlichen Feindbildes in der Bevölkerung jene Ängste zu schüren, die für die Durchsetzung der eigenen politischen Projekte notwendig sind. Neben bereits genannten innen- und sicherheitspolitischen Maßnahmen geht es im Zusammenhang mit dem Islam dabei – ganz im Sinne des Vordenkers Samuel Huntington – um die Legitimierung eines „Kampfs der Kulturen“ auf globaler Ebene und also um die Beteiligung am US-amerikanisch geführten „Krieg gegen den Terror“. Mit dessen VerfechterInnen in Think-Tanks in den USA verbindet VertreterInnen neo- und rechtskonservativer Positionen hierzulande ohnehin mehr als nur die Fokussierung auf den Iran als nächstem Angriffsziel: hier wie dort müssen für neoimperialistische Politik ausgerechnet jene „westlichen“, zugleich jedoch „universellen“ „Werte“ – Freiheit, Demokratie und Menschenrechte – als Begründung herhalten, die in Folge des „Kriegs gegen den Terror“ weltweit mit Füßen getreten werden und gegen deren Verwirklichung in Europa und den USA selbst sich grade konservative Kreise seit Jahrhunderten (erfolgreich) verwehren.

Frauenrechte und rechte Frauen

Die Paradoxie einer solchen Argumentation wird dabei nirgendwo deutlicher als in der Debatte um Frauenrechte und weibliche Emanzipation. Denn wo einerseits Kirchenvertreter und konservative Parteien im Fahrwasser des „Eva-Prinzips“ publikumswirksam „für eine neue Weiblichkeit“, mithin also für die Rückkehr zu der von „der 68er-Bewegung“ vermeintlich abgeschafften Wertschätzung für Kinder, Familie und den gewalttätigen Ehemann geworben wird, mutiert andererseits alles und jedeR – selbst noch die reaktionärsten VerfechterInnen von Heim-und-Herd – zu glühenden RadikalfeministInnen, wenn es um „den Islam“ geht. Diesem wird dabei unterstellt, im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse „kulturell“ rückständig und vormodern zu sein und eine Form patriarchaler Unterdrückung zu (re-)produzieren, über die der fortschrittliche, durch die Emanzipation der Frauen geprägte und daher überlegene „Westen“ längst hinaus wäre. Derartig offenkundig kulturrassistisch wird indes nicht allein von jenen argumentiert, die – wie rechtskonservative Kreise – Frauenrechte und Sexismus ausschließlich mit dem Ziel aufgreifen, verschärfte Repressionsmaßnahmen gegen MigrantInnen oder eine interventionistische Außenpolitik zu rechtfertigen. Vielmehr wird eine ganz ähnliche Position auch von einem gegenwärtig überaus populären rechten Feminismus vertreten. Nicht zufällig war es Alice Schwarzer und ihrer Zeitschrift Emma vorbehalten, in dieser Hinsicht eine fragwürdige VorreiterInnenrolle zu spielen: so prangerte Emma bereits 1993 in einem Dossier mit dem Titel „islamischer Fundamentalismus“ die Frauenunterdrückung in so genannten islamischen Ländern auf eine Art und Weise an, die von verschiedener Seite als (kultur-)rassistisch ausgewiesen wurde.62 Dass es Schwarzer und KonsortInnen insbesondere in Folge von 9/11 und dem Mord an Theo van Gogh dennoch gelang, zu gefragten ExpertInnen in Sachen „islamischer Fundamentalismus und Frauen“ zu werden, sagt viel aus über ein politisches Klima, in dem z. B. die Fokussierung auf das Kopftuch als Symbol für die Unterdrückung „der muslimischen Frau“ und also für die Gewalttätigkeit „des Islam“ längst zum ideologischen Allgemeingut geworden ist. Ohne an dieser Stelle auf die Einzelheiten der sogenannten Kopftuchdebatte(n) eingehen zu können, sei auf eine inzwischen mehrheitsfähige Position verwiesen, die zunächst Sexismus als gesellschaftlichen Hauptwiderspruch setzt und Unterdrückungsverhältnisse entlang anderer Kategorien (z. B. „Kultur“, Nationalität) bewusst ignoriert, um dann ausschließlich „den Islam“ in den Blick zu nehmen und das Ablegen des Kopftuches, d.h. die Abkehr vom Islam, zur Grundvoraussetzung von Emanzipation zu erklären.63 Im Zuge einer solchen Argumentation wird kopftuchtragenden Frauen nicht nur der Status als Subjekt ihrer eigenen Befreiung abgesprochen und die Komplexität der Auseinandersetzungen und Differenzen innerhalb islamisch geprägter Regionen und Communities zu Gunsten des Bildes eines homogenen „Islam“ ignoriert, sondern auch „der Westen“ als quasi-paradiesischer Ort der (weiblichen) Emanzipation konstruiert. Dies trägt schließlich auch dazu bei, die in europäischen Ländern nach wie vor und angesichts des (neo-)konservativen Backlash mehr denn je existierenden patriarchalen Unterdrückungsverhältnisse zu überdecken.

Islamophobie und die Linke

Angesichts solcher Implikationen taucht freilich die Frage auf, warum auch Personen, die sich selbst als liberal oder links verstehen und in Bezug auf eine Vielzahl gesellschaftlicher Fragestellungen progressive und emanzipatorische Positionen vertreten, der unkritischen Verabsolutierung eines weißen, mitteleuropäischen Frauenbildes in den Debatten um „den Islam“ nicht nur widerstandslos begegnen, sondern sie im Gegenteil selbst noch befördern. Als Paradebeispiel hierfür kann jener offene Brief gelten, in dem 2003 in Deutschland im Zuge der Kopftuchdebatte rund hundert FeministInnen und AntirassistInnen, unter ihnen Halina Bendkowski, Viola Roggenkamp, Seyran Ates und Frigga Haug, unverblümt forderten, solche MigrantInnen, die aus „Ländern kommen, in denen Männer gegenüber Frauen rechtlich privilegiert sind“, dann sofort auszuweisen, wenn sie das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes nicht explizit unterschreiben würden. Auch wenn Frigga Haug diese Forderung, die letztlich auf eine rassistische Sondergesetzgebung hinauslaufen würde, später lediglich als „Provokation“ verstanden wissen wollte64, so zeigt sich an diesem Fall die Gefahr, die von einem gegenüber dem eigenen (privilegierten) Standpunkt unkritischen, die bestehenden politischen und ideologischen Kräfteverhältnisse ignorierenden Universalismus gegenwärtig auch dann ausgeht, wenn an seinem emanzipatorischen Impetus kein Zweifel bestehen könnte: nicht nur werden reaktionären Kräften aus politisch vermeintlich unbedenklicher Ecke Steilvorlagen für die weitere Verbreitung islamophober Stereotype geliefert, es werden diese auch dort hoffähig gemacht, wo sich im Grunde antirassistischer Widerstand formulieren sollte.

Kolonialer Gestus

Die Seltenheit solidarischer Auseinandersetzung zum Thema Islamophobie sowie die damit einhergehende Unfähigkeit, effektive antirassistische Positionen zu entwickeln, ist nicht zuletzt Ausdruck einer allgemeinen Krise der Linken. Der unkritische Rückgriff auf die „Werte der Aufklärung“ als letzter Zufluchtsort einer desillusionierten Linken muss auch als Ergebnis zahlloser Niederlagen der letzten Jahrzehnte begriffen werden. So ist die Position, als RächerIn der Marginalisierten, der unterdrückten Frauen und diskriminierten Homosexuellen aufzutreten, in ihrer kulturalisierten Umdeutung oft recht bequem, da sich dadurch eine Konfrontation mit den scheinbar übermächtigen Verhältnissen, die tatsächlich diese Ausschlussmechanismen produzieren, erübrigt. Stattdessen wirft man sich in die Pose der RetterIn der Menschenrechte, um gemeinsam mit den Herrschenden religiös oder kulturell definierte Gruppen zum Hauptfeind zu erklären. Bei aller emanzipatorischer Motivation werden damit nicht nur die systematischen Effekte der Islamophobie erzeugt, sondern auch, durch die Subsumtion aller gesellschaftlichen Konflikte unter eine rassistische Dichotomisierung, reale Macht-, Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse hegemonial stabilisiert. Der spezifisch „linken“ Ausprägung dieser islamophoben Praxis kommt dabei besondere Bedeutung zu. Diese hat einerseits die kritische Debatte zum Begriff der Kultur, wie sie in den 1980er und 1990er Jahren geführt wurde, rezipiert und weiß scheinbar um deren nicht-angeborenen, nicht-statischen und hybriden Charakter Bescheid. Gleichzeitig fordert sie jedoch, etwa in der „Integrationsdebatte“, MuslimInnen ultimativ zur Konvertierung zu einer – letztlich doch gar nicht so hybriden – westlichen oder europäischen „Wertegemeinschaft“ auf. Nicht so sehr die kulturrassistischen Positionen der „Neuen Rechten“, die der Trennung unvereinbarer Kulturkreise das Wort reden, stehen hier im Mittelpunkt, sondern der koloniale Gestus des aufgeklärten Europäers: Alle Barbaren haben die Chance auf und Pflicht zu säkularer Erleuchtung. Ist das nicht das alte wie das neue an diesem Rassismus?

Anmerkungen

1 Der Standard vom 18. Jänner 2008
2 Miles, Robert: Bedeutungskonstitution und der Begriff des Rassismus, in: Das Argument 175 (1989), S. 353-367; Miles, Robert: Die Idee der „Rasse“ und Theorien über Rassismus: Überlegungen zur britischen Diskussion, in: Bielefeld, Ulrich (Hg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der alten Welt? Neuausgabe. Hamburg 1998, S. 189-218
3 Hall, Stuart: Rasse – Klasse – Ideologie, in: Das Argument 122 (1980), S. 507-511
4 Hall, Stuart: Rassismus als ideologischer Diskurs, in: Räthzel, Nora (Hg.): Theorien über Rassismus, Hamburg 2000, S. 7-16, hier S. 14
5 Balibar, Etienne: Gibt es einen ,neuen Rassismus‘?, in: Das Argument 175 (1989), S. 369-380, hier S. 374
6 Hall, Stuart: „Die Frage des Multikulturalismus“, in: ders.: Ausgewählte Schriften 4. Ideologie, Identität, Repräsentation, Hamburg 2004, S. 188-227, hier S. 205
7 Vgl. ebd. S. 204f.
8 Vgl. Miles: Die Idee der „Rasse“ und Theorien über Rassismus, a.a.O., S. 211f.
9 Vgl. Hall: Rassismus als ideologischer Diskurs, a.a.O.
10 Vgl. Hall: Rasse – Klasse – Ideologie, a.a.O., S. 508f.
11 Hall: Rassismus als ideologischer Diskurs, a.a.O., S. 14
12 Vgl. Miles: Bedeutungskonstitution und der Begriff des Rassismus, a.a.O., S. 360f.; Hall: Rassismus als ideologischer Diskurs, a.a.O., S. 10f.
13 Vgl. Balibar: Gibt es einen ,neuen Rassismus‘?, a.a.O., S. 370
14 Als Neue Rechte (vorher „Junge Rechte“) bezeichneten sich erstmals die jüngeren Rechtsradikalen in der 1964 gegründeten NPD, um sich von den erfolglosen „alten Rechten“ abzugrenzen.
15 www.thule-seminar.org
16 Flatz, Christian/Gärtner, Reinhold: Kultur statt ‘Rasse’. Analyse einer Bedeutungsverschiebung, in: Flatz, Christian u.a. (Hg.): Rassismus im virtuellen Raum, Hamburg 1998, S. 219-239, hier S.219
17 Fischer, Gero/Gstettner, Peter (Hg.): Am Kärntner Wesen könnte diese Republik genesen. An den rechten Rand Europas: Jörg Haiders „Erneuerungspolitik“, Klagenfurt/Celovec 1990.
18 Vgl. Taguieff, Pierre-Andre: La Force du préjugé. Essai sur le racisme et ses doubles, Paris 1988. Deutsche Ausgabe: Die Macht des Vorurteils. Der Rassismus und sein Double, Hamburg 2000
19 Ebd.
20 Vgl. Krebs, Pierre (Hg.): Mut zur Identität – Alternativen zum Prinzip der Gleichheit, Tübingen 1988
21 NPD-Parteiprogramm, 8. Aufl. 2004, Berlin. http://partei.npd.de/medien/pdf/Parteiprogramm.pdf
22 Vgl. Demirovic, Alex (Hg.): Konjunkturen des Rassismus, Münster 2002
23 Çaglar, Gazi: Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen. Der Westen gegen den Rest der Welt. Eine Replik auf Samuel Huntingtons ,Kampf der Kulturen‘. Überarb. und erg. Auflage, Münster 2002, S. 10
24 Vgl. ebd., S. 13ff.
25 Huntington, Samuel P.: “The Clash of Civilizations?”, in: Foreign Affairs 72:3 (1993), S. 22-49
26 Çaglar: Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen, a.a.O.
27 Vgl. Huntington: The Clash of Civilizations?, a.a.O., S. 23
28 Geiger, Klaus F.: Vorsicht: Kultur. Stichworte zu kommunizierenden Debatten, in: Das Argument 224 (1998), S. 81-90
29 Huntington: The Clash of Civilizations?, a.a.O., S. 40
30 Ebd., S. 25, 40
31 Ebd., S. 39
32 Ebd., S. 45
33 Ebd., S. 35
34 Said, Edward W.: Orientalism, New York 1978. Deutsche, allerdings ungenaue Übersetzung: Orientalismus, Frankfurt a. M. 1981
35 Vgl. ebd., S. 48-50
36 Geiger: Vorsicht: Kultur, a.a.O., S. 82
37 Huntington, Samuel P.: “If not Civilization, What? Paradigms of the Post-Cold War World”, in: Foreign Affairs 72:5 (1993), S. 186-194, hier S. 192f.
38 Vgl. Huntington: Clash of Civilizations?, a.a.O., S. 48f.
39 Huntington war freilich Mitglied jener Kommission, die bereits 1987 dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan riet, sich vom Kommunismus als Hauptfeind zu lösen und sich stärker militärisch in regionalen und internen Konflikten auf anderen Kontinenten und den Ländern der „dritten Welt“ zu engagieren (vgl. Çaglar, a.a.O., S. 39, Anm. 70).
40 Geiger: Vorsicht: Kultur, a.a.O., S. 82
41 Keegan, John, The Daily Telegraph, 8. Oktober 2001
42 Fekete, Liz: Racism: the hidden cost of September 11, London, IRR, 2002
43 Flyghed, Janne: ‘Normalising the exceptional: the case of political violence’, in: Policing and Society 13:1 (2002)
44 Copenhagen Post (25. September 2003); Aftenposten (30. Jänner 2004), nach Feteke, a.a.O.
45 Junge Welt, 4. Jänner 2003
46 Statewatch Bulletin 13:6 (2003)
47 Zitiert im Economist, 25. Oktober 2003
48 Club 2 am 6. Februar 2008 „Hassliebe USA-Europa?“
49 Zur Debatte um die Aufklärung vgl. den Artikel von Neil Davidson in dieser Ausgabe.
50 Pautz, Hartwig: Die deutsche Leitkultur. Eine Identitätsdebatte: Neue Rechte, Neorassismus und Normalisierungsbemühungen, Stuttgart 2005
51 Tibi, Bassam: Europa ohne Identität. Die Krise der multikulturellen Gesellschaft, München 1998
52 Junge Freiheit, 19. März 1997
53 Aus der Pressemitteilung des baden-württembergischen Innenministeriums vom 14. Dezember 2005
54 Al-Radwany, Marwa: Vortrag „Feindbild Islam – der neue Rassismus“ auf der „Marx is muss“-Konferenz in Berlin, November 2007
55 Focus 10.04.2006
56 Alice Schwarzer, zitiert nach Marx, Daniela: Vom ,feministischen Schreckgespenst‘ zur gefragten Expertin – Alice Schwarzers Islamismuskritik als Eintrittskarte in die Welt der Mainstream-Medien, in: Jäger, Margarete/Link, Jürgen (Hg.): Macht – Religion – Politik. Zur Renaissance religiöser Praktiken und Mentalitäten, Münster 2006, S. 209-230, hier S. 218
57 Der Kulturrelativismus betont den Pluralismus der Kulturen und postuliert, dass Kulturen nicht verglichen oder aus dem Blickwinkel einer anderen Kultur bewertet werden können.
58 Broder, Henryk in: Spiegel 29. Dezember 2007; vgl. Aussagen von Susanne Winter zur FPÖ-Neujahrskonferenz
59 Alice Schwarzer, zitiert nach Marx: Vom ,feministischen Schreckgespenst‘ zur gefragten Expertin, a.a.O.
60 So wird heftig für eine „neue Lust am Nationalstolz“ – so der Titel einer Diskussion bei Beckman – geworben, der Abschied von dem durch „Linke und politisch Korrekte“ aufgezwungen „Schuldkomplex“ gefordert und schließlich die Einsicht vertreten, Hitler sei lediglich „ein Freak-Unfall der Deutschen“ (Spiegel-Kulturchef Matthias Mattusek) gewesen.
61 Ebd., S. 213
62 Vgl. Marx, Daniela: Krieg für Frauen(rechte)? ,Pseudo-feministische‘ Kollateralschäden, in: Forum Wissenschaft 1 (2002), S. 34-37. Online: http://www.bdwi.de/forum/archiv/archiv/441976.html
63 Vgl. ebd.
64 Zur Debatte um diesen offenen Brief siehe u. a. http://www.iz3w.org/iz3w/Ausgaben/276/LP_s07.html, http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2004/01/17/a0173





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