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nao steht für Unruhe
von Benjamin Opratko

Rezension: Unruhen in China. Beilage der Wildcat #80, Dezember 2007, 4,50 €

Der Blick auf China lässt staunen. Zu vielfältig und widersprüchlich sind die medial vermittelten Bilder, die wir EuropäerInnen üblicherweise geboten bekommen: Billiglohnland für Spielzeug und Kleidung, Austragungsort der olympischen Spiele, neue Weltmacht (meist mit Fragezeichen), Lokomotive der Weltkonjunktur, Turbokapitalismus mit sozialistischem Antlitz, Megainvestor in Afrika und Lateinamerika („bald auch bei uns?“, fragt dann die hiesige Wirtschaftspresse nervös), Börsenjongleur und Dollaraufkäufer, Atmosphärenverschmutzer, verdammt viele sind sie – und was passiert erst, wenn die alle Auto fahren wollen? Es ist den HerausgeberInnen und AutorInnen dieses Hefts hoch anzurechnen, dass sie sich auf den 80 A4-Seiten nicht in diesen und noch viel mehr Fragen verheddert haben, sondern einen beeindruckend informierten und hoch interessanten Einblick in die Auseinandersetzungen liefern, die in China selbst die Entwicklung bestimmen. Nicht zufällig prangt das nao am Cover, das Zeichen für Unruhe, Lärm und Tumult, wie wir auf der Rückseite erfahren. Es geht vor allem um die Kämpfe der drei „gefährlichen Klassen“, von deren Ausbeutung und Ruhigstellung das chinesische Regime abhängt, deren Unzufriedenheit aber zugleich dessen größte Bedrohung darstellt. Da wären zunächst die Bauern und Bäuerinnen, die mit rund 700 Millionen noch immer den größten Bevölkerungsanteil stellen (zum Vergleich: die EU hat rund 500 Millionen EinwohnerInnen) und die von massiver Enteignung durch den Staat betroffen sind. Die boomende Wirtschaft braucht Platz und den bekommt sie – für Industrieprojekte und rasant wachsende Städte – häufig, indem der Staat schlicht Landraub begeht. Viele tausende Proteste, von friedlichen Petitionen bis zu gewaltsamen Aufständen, sind Ausdruck des Widerstands dieser ihrer Subsistenzgrundlage beraubten Bauern und Bäuerinnen.

Dann gibt es die „alte“ industrielle ArbeiterInnenklasse, gongren, die im maoistischen China als Stütze des Staates galt und in kollektiven Arbeitseinheiten, danwei, beschäftigt war. Mit lebenslanger sozialer Absicherung – der so genannten „eisernen Reisschüssel“ – ausgestattet, hatten sie gewisse Privilegien genossen, die sie jedoch mit rigider politischer Überwachung und Kontrolle bezahlen mussten. Doch spätestens seit den Reformen der 1990er Jahre wurden die gongren zu einem weiteren Unruheherd. Die meisten danwei wurden umstrukturiert, viele geschlossen oder privatisiert, während den ArbeiterInnen die „eiserne Reisschüssel“ entzogen wurde und (meist befristete) Arbeitsverträge die lebenslange Zugehörigkeit zu einer Arbeitseinheit ablösten. Der darauf folgende soziale Abstieg eines großen Teils der gongren ließ auch hier die Unzufriedenheit steigen und das traditionelle Band zwischen der städtischen ArbeiterInnenklasse und der herrschenden KP locker werden.

Und schließlich sind die WanderarbeiterInnen, als dynamischste gesellschaftliche Kraft Chinas, die vielleicht „gefährlichste aller Klassen“. Sie, die mingong – „Bauern-die-Arbeiter-wurden“ – arbeiten in den Sonderwirtschaftszonen, produzieren die chinesischen Exportschlager der Spielzeug- und Textilindustrie, bauen die Fabriken und Wohnsilos oder bieten einfache Dienstleistungen in den wachsenden Megastädten an. Sie sind jung, überwiegend weiblich und wehren sich gegen niedrige Löhne, Lohnbetrug, schlechte Arbeitsbedingungen, fehlende soziale Absicherung oder miserable Wohnverhältnisse (vgl. den Artikel von Pun Ngai in Perspektiven Nr. 3) .

Den AutorInnen gelingt es, diese groben Linien der gegenwärtigen Klassenlandschaft in China nahe zu bringen, ohne holzschnittartig zu werden. Über Widersprüche innerhalb und zwischen den einzelnen Klassen wird nicht hinweggegangen, die spezifischen Situationen etwa von Frauen, sowohl von Wanderarbeiterinnen als auch von „traditionellen“ gongren und Bäuerinnen, werden behandelt. So wird in einem Beitrag gezeigt, dass die „unglückliche Generation“, die die Jahrgänge von ca. 1945 bis 1960 umfasst, nicht nur insgesamt von Hungersnöten, den Gewaltexzessen der „Kulturrevolution“ und den neoliberalen Umstrukturierungen der 1980er und 90er Jahre geprägt ist, sondern spezifische Unterdrückungs- und Ausbeutungsformen Frauen in allen historischen Phasen zu doppelt Benachteiligten machten. Ob in den kollektivierten Landwirtschaftsbetrieben, den „Roten Garden“ der Kulturrevolution oder dem Kontrollregime des danwei, traditionelle, patriarchale Strukturen schrieben sich stets in den neuen Formen der gesellschaftlichen Organisation fort.

Der Blick aufs Konkrete, die Lebensverhältnisse und Auseinandersetzungen der neuen chinesischen ProletarierInnen, macht die Qualität des Hefts aus. Vor allem aber zeigt er, was die Probleme und Grenzen der aktuellen Kämpfe sind. Denn diese bleiben in aller Regel sehr begrenzt, richten sich gegen den Boss oder korrupte lokale Verwaltungen. Die Verbindung der Kämpfe bleibt zumeist aus und der Zentralstaat organisiert sich dermaßen geschickt, dass er, indem er Kompetenzen an die lokalen Staatseinheiten abgibt, den Zorn von sich ablenken und als neutraler Vermittler oder oberste Instanz für Protestierende auftreten kann. Doch dass dies so weiter geht, ist keineswegs ausgemacht, und die Sprengkraft, die die Verknüpfung der Kämpfe verschiedener ArbeiterInnenklassen erzeugen könnte, lässt sich in den Beiträgen des Hefts erahnen. Leider verschwindet hinter der lebendigen Beschreibung der vielfältigen ökonomischen Kampfformen etwas die Frage, welche Form einer politischen, über die konkreten Interessen der protestierenden ArbeiterInnen hinaus reichenden Organisierung unter den besonderen Bedingungen der chinesischen Entwicklungsdiktatur überhaupt denkbar ist. Auch die teilweise etwas unscharfen Begrifflichkeiten mögen manche(n) LeserIn etwas stutzen lassen – in der theoretischen Einschätzung und historischen Einordnung des maoistischen China sind sich die AutorInnen offensichtlich nicht so sicher. So wird an manchen Stellen von der „Kommodifizierung“ der Arbeitskraft durch die Privatisierung ehemals staatlicher Industrien in den 1990ern gesprochen (36), was nahe legt, dass diese davor keine Ware gewesen wäre. Anderswo leisten Frauen jedoch schon während der 1950er Jahre, zur Zeit des „Großen Sprungs nach vorne“, „Lohnarbeit“ etwa in der Textilindustrie (43). Und vollends verwirrend wird es, wenn die danwei als Orte der „sozialistischen Akkumulation von Kapital“ tituliert werden (35). Dass die notwendige Debatte um adäquate theoretisch Begriffe (die selbst eine eminent politische ist) hier nicht geführt wird, soll den Beitrag des Hefts jedoch nicht schmälern. Der Blick auf das breite Spektrum der lebendigen Kämpfe, auf randalierende WanderarbeiterInnen, streikende Proletarier im „Rostgürtel“ des Nordostens, Bauernaufstände, aber auch künstlerische Protestformen, die sich etwa in einem Boom „unbequemer Filme“ ausdrücken, ist umso wertvoller. Die deutschsprachige Linke wird, so sie die Entwicklungen in der dynamischsten Wirtschafsmacht der Welt nicht verschlafen will, an dieser Publikation nicht vorbei kommen.





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