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Nachdem es brannte. Großbritanniens Karneval der Reaktion
von Benjamin Opratko

Im Kampf um die Deutungsmacht über die Riots, an denen sich im August mehrere tausend Menschen in verschiedenen Städten Englands beteiligt hatten, scheint die Strategie der Konservativen Erfolg zu haben: „kriminelle Elemente“ und Gangs werden für die Unruhen verantwortlich gemacht. Eine Einschätzung von Benjamin Opratko.

In der Logik der Konservativen war die Sache, nach einer kurzen Schrecksekunde zumindest, klar: Die „Lösung“ für das „Problem“ der Riots besteht in möglichst harten Strafen, die nicht nur einzelne „TäterInnen“ so lange wie rechtsstaatlich irgend möglich hinter Gitter und aus den „Problem-Communities“ raus halten, sondern auch und besonders abschreckend wirken sollen. Denn wenn, wie David Cameron und Konsorten meinen, individuelle Bereicherung die Motivationslage hinter den Riots darstellt, dann waren diese eine Art organisierter Ladendiebstahl auf großer Maßstabsebene. Und LadendiebInnen lassen sich, so die Grundthese von Law-and-Order-PolitikerInnen (die auch hierzulande von ihren PopulisatorInnen verbreitet wird), von hohen Strafen abschrecken. Eine etwaige Wiederholung der „August Riots“ soll also dadurch verhindert werden, dass möglichst viele junge Menschen für mehrere Monate oder gleich Jahre und zum Teil für lächerliche „Delikte“, ins Gefängnis kommen, ihren Familien Sozialleistungen gekürzt und sie aus geförderten Wohnungen rausgeschmissen werden. Eine gewagte Wette der Herrschenden, deren Einsatz so oder so die Armen in Englands Städten zu zahlen haben. Verarmten und erwerbslosen Jugendlichen noch mehr soziale Sicherheiten zu nehmen und sie in überfüllten Gefängnissen gemeinsam mit „gewöhnlichen“ straffällig gewordenen zusammen zu pferchen ist, darauf würden wir wetten, der sicherste Weg, um aus der diskursiven Kriminalisierung der Aufständischen eine ganz praktisch-materielle zu machen, und aus den Aussagen der Herrschenden selbsterfüllende Prophezeiungen.

Die alte Einsicht Antonio Gramscis, dass Zwang- und Konsenselemente politischer Macht im Kapitalismus einander nicht ausschließen, sondern wechselseitig bedingen, lässt sich anhand dieses Karnevals der Reaktion brandaktuell nachvollziehen. Die massive Repressionswelle, in der u.a. von den allgegenwärtigen Überwachungskameras aufgenommene Bilder von Verdächtigen auf „Digi-Vans“ vor Einkaufszentren gezeigt wurden und der Bevölkerung die permanente Aufforderung angetragen wird, Bekannte, die an den Riots teilgenommen haben könnten, der Polizei zu melden, wird offenbar in breiten Teilen der englischen Bevölkerung unterstützt. Laut einer YouGov-Umfrage sind 81 Prozent der Befragten der Meinung, die Urteile gegen rioters wären „gerade richtig“ oder gar „zu wenig“ hart. Bereits während der Aufstände unterstützen 90 Prozent den Einsatz von Wasserwerfern; 77 Prozent wären für einen Armeeeinsatz gewesen und 33 Prozent meinten gar, die Polizei sollte mit scharfer Munition gegen Unruhestifter vorgehen. Der autoritär-populistische Konsens der Tories scheint also weitgehend zu halten (auch wenn aus den Reihen des liberaldemokratischen Koalitionspartners vereinzelt verhaltene Kritik an den harten Gerichtsurteilen artikuliert wird). Im Ringen um die Deutung der Aufstände haben sich alle Parlamentsparteien, die wichtigsten Medien und ein Großteil der Bevölkerung der konservativen Storyline angeschlossen. Die Bedeutungsketten, in denen jugendliche Aufständische als kriminell, gierig, gewaltgeil und bar jeglicher moralischer Codes definiert werden, scheinen fest geschmiedet. Sie nützen nicht nur der aktuellen Tory-Führung, sondern bieten auch offen faschistischen Kräften und rassistischen Figuren die Gelegenheit, sich an ihnen in Richtung Öffentlichkeit zu hanteln. Zwei Ereignisse stehen dafür paradigmatisch. Erstens versuchten die faschistische British National Party (BNP) und insbesondere die English Defence League (EDL), die Unruhen zu ihren Gunsten zu nutzen und sich als BeschützerInnen der Weißen, „anständigen“ Arbeiterklasse darzustellen. Im Londoner Stadtteil Eltham organisierte die EDL eine „Bürgerwehr“, die sich schnell in einen rassistischen Mob verwandelte. Zweitens, und möglicherweise entscheidender, brachte der konservative Historiker David Starkey eine spezifische rassistische Interpretation der Riots in die öffentliche Debatte, die sich als weitaus anschlussfähiger für die „gesellschaftliche Mitte“, d.h. jene, die sich dafür halten, erweisen könnte. In der BBC Newsnight erklärte er, die Gründe für die Gewalt wären in der Übernahme einer „schwarzen Kultur“ durch die „Chavs“ (ein abwertender Ausdruck für Weiße Jugendliche aus der ArbeiterInnenklasse) zu suchen. Seine Problemdiagnose: „The Whites have become Blacks“. Die „schwarze Kultur“ sei „gewalttätig, destruktiv, nihilistisch“ – und damit so ganz anders als das Friedvolle, Konstruktive und Geordnete, kurz: Weiße der britischen Gesellschaft. Seine besondere Signifikanz erhält dieser Sub-Diskurs der Post-Riot-Debatte, weil hier der Rassismus im respektablen Gewande eines Cambridge-Gelehrten auftritt und in bestem Empire-English beteuert, es gehe ja gar nicht um Hautfarbe, sondern bloß um „Kultur“. Die ganze Perfidie dieses Auftritts, der als Schulbeispiel für den neuen Kulturrassismus in der politischen Bildung wertvoll sein könnte, hat Owen Jones, der ebenfalls in der Sendung zu Gast war, schön zusammengefasst.

Doch die hegemonialen Verhältnisse sind nicht so widerspruchslos, wie sie sich auf den ersten Blick präsentieren mögen. Der Blogger und SWP-Aktivist Richard Seymour hat darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse der Post-Riot-Umfragen, die derzeit in den britischen Medien zirkulieren, zwei konkurrierenden Logiken folgen. Zwar ist das konservative Narrativ dominant, trotzdem sind immerhin 50 Prozent der Befragten der Meinung, dass die Sparpolitik der Tory-Regierung als eine der Ursachen für die Unruhen gesehen werden muss. (36 Prozent verneinen dies.) Angesichts des massiven Propaganda-Einsatzes der letzten Wochen, um die Riots als kriminelle Gewaltorgie darzustellen, ist das eine bemerkenswerte Zahl. Versuche, diese Widersprüche des Alltagsbewusstsein politisch zu artikulieren und Gegenpositionen zu der Strategie der Kriminalisierung und Repression hörbar zu machen, bleiben bis dato jedoch schwach. Bei einer kurzfristig von lokalen Stadtteilinitiativen organisierte Demo unter dem Motto „Give Our Kids a Chance“ kamen immerhin 2.000 Menschen zusammen, um auf die Armut und Ungerechtigkeit hinzuweisen, die als Gründe für die Riots gesehen werden. Solche Initiativen sind zumindest bislang jedoch weithin marginal. Dafür gibt es eine Reihe Gründen. Einer ist sicherlich der desaströse Zustand der Linken in England. Respect, das ambitionierte Projekt einer breiten linken Wahlplattform unter Einbindung muslimischer Gruppen, die sich in der Bewegung gegen den Irak-Krieg politisiert hatten, ist auf dramatische Weise gescheitert. Die Socialist Workers Party (SWP), die größte Organisation der radikalen Linken und ehemals treibende Kraft hinter Respect, scheint sich von dieser Niederlage bis heute nicht erholt zu haben. Zumindest stellt sie sich jedoch unmissverständlich gegen die Kriminalisierung der Aufstände und verweigert sich dem hysterischen Verurteilungs-Imperativ. Derweil sieht es aber so aus, als würde der konservative Backlash den Aufstand der englischen Jugendlichen nach dessen polizeilichen Niederschlagung noch einmal überrollen, und mit ihm all jene, die auf die gesellschaftlichen Ursachen der Riots und die Notwendigkeit ihrer Überwindung bestehen.





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